Samstag, 15. Januar 2011

Vergessene Erinnerungen

Der letzte Umzugskarton war beschriftet mit "Alles mögliche". 

Darin, so wußte ich, waren die Dinge, von denen ich mir beim Einpacken noch nicht sicher war, wo sie landen sollten. Ich fand allen möglichen Kram, Andenken aus längst vergessenen Urlaubsreisen, Foto`s die ich nicht wiedererkannte und einen Kalender, der in jenem Jahr als Tagebuch diente.

Vieles davon landete, so wie es manchmal nötig ist, im Papierkorb. Schließlich gab es nur noch einen Stapel Briefe und ein altes, braunes, in Leder gebundenes Poesiealbum.

Und plötzlich waren sie da, die Erinnerungen an, mit noch zaghafter Schrift geschriebene, Versen.
Die Ungeduld, mit der man die Rückgabe des Buches erwartete, um zu sehen, was Freunde und Lehrer geschrieben hatten. Die Enttäuschung, wenn man nicht der erste war, der das neue Album vom besten Freund zum Reinschreiben bekam.

Ich strich über das Leder, es ist mittlerweile rau geworden. Älter halt, so wie ich auch. Soviele Jahre trage ich es schon mit mir herum, die meiste Zeit, ohne es zu wissen.

So öffnete ich es also, gespannt auf das, was mich wohl erwarten würde. Ich blätterte Seite um Seite, las die Dinge, die mir die damals wichtigen Menschen meines Lebens gewidmet hatten. 

Ich mußte lächeln, meine Eltern, meine Geschwister, meine Großeltern. Kindheitsfreunde und Lehrer. Ein paar davon verloren, die meisten davon vergessen und einige nicht einmal mehr wieder erkannt. 

So verbrachte ich einige Zeit, las immer wieder die Zeilen, die mir meine Großmutter, die ich sehr liebte, mit auf den Weg gegeben hatte. Staunte über ihre Handschrift, an die ich mich kaum mehr erinnern konnte. 

Ich las die Namen von Menschen, von denen ich unbedingt eine Einladung zur Geburtstagsparty haben wollte. Wußte plötzlich wieder, wie das war, im Sportunterricht als letzter in eine Mannschaft gewählt zu werden. Las von Menschen, denen ich meinen wertvollsten Besitz schenkte, nur um dazu zu gehören.

Ich fand den Namen meiner Sandkastenliebe. Wir wollten heiraten, viele Kinder bekommen und noch mehr Tiere haben. Von jeder Sorte mindestens eins.

Ich las den Namen meiner Eltern, glücklich darüber, daß sie immer noch die wichtigsten Menschen in meinem Leben sind. Den Namen meiner Schwestern, mit denen mich immer noch die unbändige reine Geschwisterliebe unserer Kindheit verbindet.

 Ich fand einige Lehrer, von denen mich die wenigstens etwas lehrten. 

Und schließlich fand ich viele leere Seiten, von denen ich einst sicher war, sie zu füllen.

Verlorene Erinnerungen zu finden ist eine erstaunliche Geschichte. Unglaublich, wie nah die Zeit plötzlich ist, die doch eigentlich ein Leben entfernt zu sein scheint. Wie sehr und wie wenig sich die Dinge geändert haben. Schon damals waren die Seiten mit den buntesten, zahlreichsten Klebebildern oft die, mit den unbedeutetesten Worten.

 Auf meinem Weg durchs Leben habe ich viel gelernt. Ich bin, wie die meisten von uns, über steinige Straßen gewandert, habe ab und zu eine sonnige Lichtung gefunden und genügend Früchte am Waldrand gesammelt. 

Mein Leben ist gut verlaufen, ich bin versöhnt mit den Dingen, die mich erschreckten, verteile mein Poesiealbum nicht mehr wahllos und finde es wichtiger, ein gutes Spiel zu spielen, als der erste zu sein, der in die Mannschaft gewählt wurde.

  Ich bin erwachsen geworden und gewachsen an der Welt, in der man wichtige Namen vergisst und selbst vergessen wird. In der Kindheitsträume vergehen und anderen Träumen Platz machen. In denen man ein guter Lehrer sein muß, um selbst zu lernen. In der die Menschen, die man liebt nicht für immer bleiben, aber lang genug, um sie niemals zu vergessen und die Worte, die sie an uns richten, im Herzen zu tragen.

Es ist eine gute Welt, wenn wir sie zu einer guten Welt machen.


In dem letzten Karton fand ich ein altes, braunes, in Leder gebundenes Poesiealbum. Und darin fand ich die Worte, die schon jeder gehört hat und die meine Großmutter mir schrieb.


Dein Glück ist nicht ewiger Sonenschein,
auch Stürme gehören ins Leben hinein.
Doch wahr Dir im Glück,
wie im läuternden Schmerz,
den Platz Deiner Jugend,
ein kindliches Herz.

3 Kommentare:

  1. Einfach wundervoll..Danke

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  2. Wie schön geschrieben. Du sprichst mir aus der Seele. Nicht einmal ansatzweise hätte ich es so schön ausdrücken können. Beim Aufräumen unseres Dachbodens ist mir heute auch so ein Karton in die Finger gekommen und es flossen sogar ein paar Tränen, als ich einen Brief las von einem Freund, der nicht lange genug blieb, aber lang genug, um ihn niemals zu vergessen und seine Worte im Herzen zu tragen. Auch das Poesiealbum war dabei und so viele Erinnerungen wurden wach.

    Behalten wir sie im Herzen. Sie machen unser Leben aus ;)

    Liebe Grüße
    Fee

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  3. Vielen Dank!

    Die Erinnerung an die wichtigen Menschen in unserem Leben treffen uns oft völlig überraschend und heftig. Manchmal kann man kaum atmen, so nah ist plötzlich alles, selbst wenn es schon einige Zeit zurück liegt.
    Ich glaube, das nennt man Liebe und wenn es die wahre ist, dann endet sie nie.

    Liebe Grüße,

    Markus

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